Freitag, 15 November 2024
StartPolitikBetriebsvereinbarung ohne Betriebsratsbeschluss - Reicht der Anschein eines Betriebsratsbeschlusses?

Betriebsvereinbarung ohne Betriebsratsbeschluss – Reicht der Anschein eines Betriebsratsbeschlusses?

1. Eine vom Betriebsratsvorsitzenden ohne Beschluss des Gremiums abgegebene Erklรคrung zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung kann dem Betriebsrat nicht nach den Grundsรคtzen einer Anscheinsvollmacht zugerechnet werden.

2. Der Betriebsrat hat bei Abschluss einer Betriebsvereinbarung die Nebenpflicht, dem Arbeitgeber auf dessen zeitnah geltend zu machendes Verlangen eine den MaรŸgaben des ยง 34 Abs. 2 S. 1 BetrVG entsprechende Abschrift desjenigen Teils der Sitzungsniederschrift auszuhรคndigen, aus dem sich die Beschlussfassung des Gremiums ergibt.

(Leitsรคtze)
BAG, Urteil vom 8. Februar 2022 – 1 AZR 233/21

Der Arbeitnehmer ist seit 1997 bei einem Unternehmen der Stahlindustrie beschรคftigt; auf das Arbeitsverhรคltnis finden die Tarifvertrรคge der Eisen- und Stahlindustrie Anwendung. Im maรŸgeblichen Lohntarifvertrag fand sich eine tarifliche ร–ffnungsklausel die bestimmte, dass fรผr die tarifliche Eingruppierung eine analytische Arbeitsbewertung durch Regelungen einer Betriebsvereinbarung vorgenommen werden kรถnne. Fehle eine entsprechende Betriebsvereinbarung, finde eine summarische Eingruppierung nach einem Lohngruppensystem statt. Zunรคchst galten im Unternehmen Betriebsvereinbarungen zur Eingruppierung nach analytischer Bewertung und zur Prรคmienzahlung aus dem Jahr 1967. Im Jahr 2017 verhandelten die Betriebsparteien im Rahmen einer Umstrukturierung u.a. รผber zwei ablรถsende Betriebsvereinbarungen zur summarischen Eingruppierung nach einem Lohngruppensystem sowie zur (abschmelzenden) Prรคmienzahlung. Der Betriebsratsvorsitzende unterzeichnete die ablรถsenden Betriebsvereinbarungen nach lรคngeren Verhandlungen, ohne dass dazu ein Beschluss des Betriebsrats gefasst wurde. Die Tarifvertragsparteien haben die ablรถsenden Betriebsvereinbarungen, ohne Kenntnis des fehlenden Beschlusses, genehmigt. Im Nachgang erfolgte eine Eingruppierung des Arbeitnehmers im Lohngruppensystem, die einen monatlichen Entgeltverlust zur Folge hatte. Der Arbeitnehmer erhob Klage und verlangte unter anderem die Feststellung, dass maรŸgeblich fรผr seine Eingruppierung weiterhin die Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 1967 sei. Diese sei, mangels Betriebsratsbeschluss, nicht durch die Betriebsvereinbarung aus 2017 abgelรถst worden. Sowohl das Arbeitsgericht Wuppertal als auch das LAG Dรผsseldorf wiesen die Klage ab. Die Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2017 sei durch die Unterzeichnung des Vorsitzenden formell wirksam zustande gekommen, da sie nach den Grundsรคtzen der Anscheinsvollmacht dem Betriebsrat zuzurechnen sei. Es seien fรผr die Arbeitgeberin keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich gewesen, die sie daran hรคtten zweifeln lassen kรถnnen, dass der Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung ein Beschluss des Betriebsrats zugrunde gelegen habe. Es hรคtte daher auf Seiten der Arbeitgeberin der Vertrauenstatbestand – der sogenannte Rechtsschein – bestanden, dass der Betriebsratsvorsitzende aufgrund eines Beschlusses des Betriebsrats gehandelt habe. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat die Entscheidung des LAG Dรผsseldorf und des Arbeitsgerichts Wuppertal aufgehoben und dabei festgestellt, dass die Grundsรคtze der Anscheinsvollmacht im Hinblick auf die Unterzeichnung von Betriebsvereinbarungen keine Anwendung finden. Erklรคrungen des Betriebsratsvorsitzenden zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung kรถnnen daher nicht auf Grundlage einer Anscheinsvollmacht dem Betriebsrat zugerechnet werden. Begrรผndet hat das BAG dies unter anderem damit, dass nach ยง 26 Abs. 2 S. 1 BetrVG der Vorsitzende den Betriebsrat nur im Rahmen der vom Betriebsrat gefassten Beschlรผsse vertritt. Es erfolgt damit gerade keine Vertretung im Willen, sondern lediglich in der Erklรคrung. Damit stehe dem Betriebsratsvorsitzenden bereits von Gesetzes wegen nicht die Befugnis zur eigenen rechtsgeschรคftlichen Willensbildung anstelle des Betriebsrats zu. Auch die normative Wirkung von Betriebsvereinbarungen gemรครŸ ยง 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG spreche eindeutig dagegen, die Grundsรคtze der Anscheinsvollmacht anzuwenden. Gerade diese unmittelbare Wirkung gegenรผber den Beschรคftigten erfordere, dass eine Willensbildung des Gremiums dem Abschluss einer Betriebsvereinbarung zugrunde liege. Der bloรŸe Rechtsschein eines Beschlusses kรถnne dem nicht entsprechen. SchlieรŸlich sei der Rรผckgriff auf die Grundsรคtze der Anscheinsvollmacht auch im Hinblick auf die Rechtssicherheit nicht erforderlich, da zum einen die Mรถglichkeit bestehe, dass der Betriebsrat die Erklรคrung des Betriebsratsvorsitzenden nachtrรคglich – durch Beschluss – genehmigt und den Mangel heilt. Zum anderen sei der Arbeitgeber, wenn er dies zeitnah verlangt, auch berechtigt, eine den Vorgaben des ยง 34 Abs. 2 S. 1 BetrVG entsprechende Abschrift desjenigen Teils der Sitzungsniederschrift zu verlangen, aus dem sich die Beschlussfassung des Betriebsrats ergibt, die fรผr die Wirksamkeit der abgegebene Erklรคrung erforderlich ist. Dies folge aus ยง 77 Abs. 1 i.V.m. ยง 2 Abs. 1 BetrVG. Eine รœbersendungspflicht des Betriebsrats ohne entsprechendes Verlangen des Arbeitgebers bestehe jedoch nicht. Ebenso wenig folge hieraus, dass der Arbeitgeber ein Teilnahmerecht an den Beschlussfassungen des Betriebsrats erhรคlt oder dass diesem ein Kontrollrecht der Beschlรผsse des Betriebsrats zugestanden wird.

Fazit:
Die Entscheidung des BAG schafft Rechtssicherheit und zeigt auch auf, was vom Betriebsrat vorzunehmen ist, um Einwendungen des Arbeitgebers, der Unterzeichnung von Betriebsvereinbarungen hรคtten keine Beschlรผsse des Gremiums zugrunde gelegen, zurรผckzuweisen. Gleiches gilt fรผr die Mรถglichkeit der Heilung. Zwar erfordern Beschlรผsse des Betriebsrats fรผr ihre Wirksamkeit nicht zwingend der Aufnahme in das Protokoll der Betriebsratssitzung. Angesichts der Rechtsprechung des BAG ist es aber unbedingt zu empfehlen, Beschlรผsse, die den Abschluss von Betriebsvereinbarungen zum Gegenstand haben, in das Protokoll aufzunehmen. SchlieรŸlich hilft die Rechtsprechung des BAG auch, wenn von Arbeitgeberseite verlangt werden sollte, dass die/der Betriebsratsvorsitzende ohne Beschluss des Gremiums „mal schnell“ eine Betriebsvereinbarung unterzeichnet.

Fabian Wilden, Rechtsanwalt

Die Rechtsanwรคltinnen und Rechtsanwรคlte von Windirsch, Britschgi & Wilden sind auf Arbeitsrecht & Sozialrecht spezialisiert und legen zudem Wert auf ihr soziales Engagement.
Seit 1983 setzt sich unsere Kanzlei ausschlieรŸlich fรผr die Belange von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein. Wir betreuen insbesondere Betriebsrรคte, Personalrรคte, Schwerbehindertenvertretungen und Mitarbeitervertretungen.
Unsere Kanzlei in der MarktstraรŸe 16 in Dรผsseldorf ist spezialisiert auf die Rechtsgebiete: Arbeitsrecht & Sozialrecht
Die jahrzehntelange Qualifizierung unserer Rechtsanwรคltinnen und Rechtsanwรคlte garantiert unseren Mandanten die bestmรถgliche Beratung und Vertretung im Arbeitsrecht & Sozialrecht.
Betriebsrรคte, Personalrรคte, Schwerbehindertenvertretungen und Mitarbeitervertretungen finden Unterstรผtzung beim Verhandeln von Betriebsvereinbarungen, Dienstvereinbarungen und Sozialplรคnen oder bei der Einleitung gerichtlicher Beschlussverfahren und Einigungsstellenverfahren.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden von unseren Rechtsanwรคlten und Rechtsanwรคltinnen umfassend beraten und vertreten. Dies gilt z.B., wenn diese eine Kรผndigung erhalten haben, eine Abfindung aushandeln mรถchten oder sich gegen Abmahnungen und ungerechtfertigte Versetzungen zur Wehr setzen wollen.
Als Kanzlei Windirsch, Britschgi & Wilden stehen wir mit unserem guten Namen dafรผr ein, dass Sie zu Ihrem Recht gelangen. Fรผr unsere Rechtsanwรคltinnen und Rechtsanwรคlte sind Ihre Anliegen die Verpflichtung zu einer umfassenden und engagierten Vertretung.

Firmenkontakt
Windirsch, Britschgi & Wilden
Fabian Wilden
Marktstr. 16
40213 Dรผsseldorf
0211/8632020
0211/86320222
wilden@fachanwaeltinnen.de
http://www.fachanwaeltinnen.de

Pressekontakt
PUBLIC TUNE Agentur fรผr Kommunikation & PR
Melanie Schrader
Achenbachstr. 40
40237 Dรผsseldorf
0211-59815-159
schrader@public-tune.de
http://www.public-tune.de

Die Bildrechte liegen bei dem Verfasser der Mitteilung.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

- Advertisment -

Neueste Beitrรคge

[td_block_3 block_template_id="td_block_template_14" linked_posts="" sort="random_7_day" td_ajax_preloading="preload" limit="9" custom_title="Das kรถnnte dir auch gefallen!" header_color="#fe16af" f_header_font_size="24" f_header_font_weight="600" category_id="_current_cat"]