Dienstag, 19 November 2024
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Keine Entgeltfortzahlung trotz AU-Bescheinigung

Arbeitsgericht Bochum, Urteil vom 12.12.2022 – 4 Ca 1109/22

Keine Entgeltfortzahlung trotz Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung nach Kรผndigung

Arbeitsgericht Bochum, Urteil vom 12.12.2022 – 4 Ca 1109/22 –

Das Arbeitsgericht Bochum hat entschieden, dass eine Arbeitnehmerin gegenรผber ihrem ehemaligen Arbeitgeber keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung wegen Krankheit hat, obwohl sie nach Eigenkรผndigung bis zum Ablauf der Kรผndigungsfrist Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigungen vorgelegt hatte.

Der Fall:

Die Klรคgerin war als Bรผroangestellte tรคtig. Das Arbeitsverhรคltnis endete aufgrund Eigenkรผndigung der Klรคgerin vom 19.07.2022, zugegangen am 19.07.2022, mit Ablauf des 31.08.2022. Die Klรคgerin reichte beim Beklagten Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigungen fรผr die Zeit vom 21.07.2022 (nรคchster Arbeitstag nach dem 19.07.2022) bis zum 31.08.2022 mit dem Diagnoseschlรผssel F43.1 (Anpassungsstรถrung) ein. Der Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung.

Mit ihrer Klage vom 22.09.2022 machte die Klรคgerin u.a. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall fรผr die Zeit vom 21.07.2022 bis 31.08.2022 geltend. Sie war der Ansicht, ihr stรผnde ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu. Sie sei im streitigen Zeitraum wegen einer Anpassungsstรถrung arbeitsunfรคhig erkrankt gewesen. Diese Erkrankung habe sie schon lรคnger. Sie trete immer mal wieder auf und sei durch den beruflichen Stress entstanden.

Der Beklagte war der Ansicht, nicht zur Entgeltfortzahlung verpflichtet zu sein. Der Beweiswert der Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigungen fรผr den Zeitraum vom 21.07.2022 bis 31.08.2022 sei erschรผttert. So decke sich der Zeitraum der behaupteten Arbeitsunfรคhigkeit praktisch exakt mit dem Zeitraum der Kรผndigungsfrist.

Das Arbeitsgericht Bochum gab dem beklagten Arbeitgeber Recht und wies Zahlungsantrag ab: Die Klรคgerin hat fรผr die Zeit vom 21.07.2022 bis zum 31.08.2022 keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Die wesentlichen Entscheidungsgrรผnde:

Das Arbeitsgericht Bochum bestรคtigte zunรคchst den grundsรคtzlich hohen Beweiswert einer ordnungsgemรครŸ ausgestellten Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung:

„…Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfรคhigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer รคrztlichen Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung iSd. ยง 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG gefรผhrt. Die ordnungsgemรครŸ ausgestellte Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrรผcklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel fรผr das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfรคhigkeit. Nach ยง 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG reicht die Vorlage einer รคrztlichen Bescheinigung iSd. ยง 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu entziehen…Der ordnungsgemรครŸ ausgestellten Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung kommt daher aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfรคhigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung vorlegt…“

Zugleich zeigte das Arbeitsgericht die Mรถglichkeiten eines Arbeitgebers auf, der Zweifel an der behaupteten Arbeitsunfรคhigkeit des Arbeitnehmers hat:

„…Aufgrund des normativ vorgegebenen hohen Beweiswerts der Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung genรผgt jedoch ein „bloรŸes Bestreiten“ der Arbeitsunfรคhigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfรคhigkeit mit einer ordnungsgemรครŸ ausgestellten Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung nachgewiesen hat. Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung nur dadurch erschรผttern, dass er tatsรคchliche Umstรคnde darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der รคrztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Der Arbeitgeber ist dabei nicht auf die in ยง 275 Abs. 1a SGB V aufgefรผhrten Regelbeispiele ernsthafter Zweifel an der Arbeitsunfรคhigkeit beschrรคnkt…Den Beweiswert erschรผtternde Tatsachen kรถnnen sich auch aus dem eigenen Sachvortrag des Arbeitnehmers oder aus der Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung selbst ergeben“.

Das Arbeitsgericht fรผhrt sodann weiter zur Darlegungs- und Beweislast aus:

„Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der รคrztlichen Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung zu erschรผttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substantiierter Vortrag z.B. dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschrรคnkungen bestanden haben und welche VerhaltensmaรŸregeln oder Medikamente รคrztlich verordnet wurden…Soweit er sich fรผr die Behauptung, aufgrund dieser Einschrรคnkungen arbeitsunfรคhig gewesen zu sein, auf das Zeugnis der behandelnden ร„rzte beruft, ist dieser Beweisantritt nur ausreichend, wenn er die ร„rzte von ihrer Schweigepflicht entbindet.“

Das „arbeitgeberfreundliche“ Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 08.09.2021 – 5 AZR 149/21 – half hier dem Arbeitgeber weiter. Das BAG entschied, dass wenn ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhรคltnis kรผndigt und er am Tag der Kรผndigung arbeitsunfรคhig krankgeschrieben wird, dies den Beweiswert der Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschรผttern kann, wenn die bescheinigte Arbeitsunfรคhigkeit passgenau die Dauer der Kรผndigungsfrist umfasst. Fรผr den hier vorliegenden Fall fรผhrt das Arbeitsgericht Bochum aus:

„Im Hinblick auf die Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung fรผr den Zeitraum ab dem 21.07.2022 liegen ernsthafte Zweifel an deren Richtigkeit vor. Diese ergรคben sich daraus, dass die Arbeitsunfรคhigkeit auf der Diagnose „Anpassungsstรถrung“ beruht und sich รผber einen Zeitraum betreffend den nรคchsten Arbeitstag nach Ausspruch der Kรผndigung bis zum Kรผndigungstermin erstreckt…In der Folge trรคgt die Klรคgerin (wieder) die volle Darlegungs- und Beweislast fรผr das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfรคhigkeit als Voraussetzung eines Entgeltfortzahlungsanspruchs nach ยง 3 Abs. 1 EFZG. Es wรคre an ihr gewesen, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine in der streitgegenstรคndlichen Zeit bestehende Erkrankung zulassen.“

Der klรคgerseits benannte und einvernommene behandelnde Arzt konnte als Zeuge jedoch nicht zur รœberzeugung der Kammer bestรคtigen, dass die Klรคgerin im streitgegenstรคndlichen Zeitraum arbeitsunfรคhig erkrankt war. Die Ausfรผhrungen des Zeugen waren nach Ansicht der Kammer lรผckenhaft und widersprรผchlich zum Vortrag der Klรคgerin. Der Zeuge konnte weder eine nachvollziehbare Untersuchung noch einen Behandlungsplan darlegen. Mangels der gebotenen Befunderhebung konnte nicht ausgeschlossen werden, dass die Klรคgerin die Arbeitsunfรคhigkeit nur vorgetรคuscht hatte. Der vernommene Arzt konnte insoweit auch nicht erklรคren, warum gerade im vorliegenden Zeitraum, also ab dem ersten Arbeitstag nach Kรผndigung, die zur Arbeitsunfรคhigkeit fรผhrende Symptomatik (Anpassungsstรถrung) aufgetreten sein soll bzw. gerade bis zum Ablauf der Kรผndigungsfrist andauerte.

Fazit:

Der vom Arbeitsgericht Bochum entschiedene Fall behandelt einen arbeitsrechtlichen Klassiker – die Arbeitsunfรคhigkeit des Arbeitnehmers unmittelbar nach Eigenkรผndigung oder Kรผndigung durch den Arbeitgeber.

Die Kammer betont den auch nach o.g. Urteil des Bundesarbeitsgerichts nach wie vor hohen Beweiswert einer durch einen Arzt ausgestellten Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung – der aber insbesondere dann, wenn die Arbeitsunfรคhigkeitsbescheinigung exakt fรผr die Kรผndigungsfrist ausgestellt wird, erschรผttert sein kann. Dies kann dazu fรผhren, dass der behandelnde Arzt vor Gericht als Zeuge aussagen muss.

Nun kรถnnte man meinen, dass insbesondere aufgrund des Vertrauensverhรคltnisses zwischen Arzt und Patient der Arzt vor Gericht „im Sinne des Patienten“ aussagen wird, was in der Regel dazufรผhren wรผrde, dass der Arbeitnehmer als Klรคger einer Entgeltfortzahlungsforderung das Verfahren zu seinen Gunsten entscheiden kann. Hinzu kรคme fรผr den beklagten Arbeitgeber dann auch noch das Kostenrisiko fรผr die Auslagen des als Zeugen vernommenen Arztes.

Andererseits weiรŸ der Arzt, dass er als Zeuge vollstรคndig und wahrheitsgemรครŸ auszusagen hat. Sollte seine Darlegung relevante Erinnerungslรผcken aufweisen, ist sie nicht aussagekrรคftig oder steht sie im Widerspruch zu den Behauptungen des Patienten/Klรคgers, kann dies dazufรผhren, dass der Nachweis der Arbeitsunfรคhigkeit, wie im Bochumer Fall, von der Kammer als nicht gefรผhrt angesehen wird und der Arbeitnehmer mit seiner Klage scheitert. Zudem dรผrfte das Verhรคltnis Arzt/Patient spรคtestens jetzt nachhaltig gestรถrt sein.

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Bildquelle: AU myriam-zilles-@unsplash

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