Rene Schoenauer, Director Product Marketing EMEA bei Guidewire Software, zu den Trends, die dieses Jahr die Versicherungsbranche formen werden
Ob Naturkatastrophe, Cyber-Angriff, Ausfall in der Lieferkette, oder Protestunruhen – die Risiken, die Versicherer dieses Jahr beschรคftigen werden, haben eines gemeinsam: Sie sind kaum vorhersehbar. Wenn eine gezielte Vorbereitung schwierig ist, hilft gegen unerwartete Herausforderungen nur Widerstandsfรคhigkeit – operative Resilienz ist fรผr Unternehmen das Gebot der Stunde. Trotz dรผsterer Stimmung auf den Mรคrkten ist dies fรผr Versicherer eine Chance, denn besonders in turbulenten Zeiten mรถchten Versicherungskunden sich bestmรถglich absichern.
Lieferketten-Management als Stolperfalle fรผr Versicherungspolicen
Im Hinblick auf Lieferketten wird sich dieses Jahr bei Verbrauchern die Sorge um Betriebsstรถrungen durch Ausfรคlle bei Zulieferern kaum legen. Die Pandemie hat Schwachstellen in globalen Lieferketten offengelegt und Betriebsunterbrechungen traten immer wieder auf. Die Zero-Covid-Politik des Exportgiganten China hat Lieferketten stark beeintrรคchtigt. Trotz Lockerungen sind Schlieรungen von Fertigungsstรคtten, das feststeckende Containerschiff im Suez-Kanal und politische Unruhen vielerorts immer noch sehr prรคsent in den Kรถpfen der Versicherten. Versicherungen gegen Betriebsunterbrechungen werden deshalb generell mehr Nachfrage erfahren. Besonders Policen, die Rรผckwirkungsschรคden abdecken, werden fรผr Geschรคftskunden interessant sein.
Bei Rรผckwirkungsschรคden mรผssen Versicherer auf Kumulrisiken achten, wรคhrend Versicherte die genaue Abdeckung und ob sie auch einen Zweit- oder Drittzulieferer einschlieรt, im Auge behalten mรผssen. Dadurch lรคsst sich ein hoher Beratungsbedarf erwarten: Bestandskunden werden existierende Vertrรคge ausweiten wollen, wรคhrend mehr Neukunden denn je an der Abdeckung von Rรผckwirkungsschรคden interessiert sein werden.
Hinzukommt, dass mit dem Jahreswechsel das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) in Kraft trat. Das Gesetz verpflichtet zunรคchst Unternehmen mit Sitz in Deutschland unter anderem zu einer Risikoanalyse und -bewertung entlang der gesamten Produktions- und Lieferkette. Dadurch kรถnnte in vielen Fรคllen die versicherungstechnische Anforderung zur Dokumentation der Lieferkette erfรผllt sein und Unternehmen direkt in eine Position bringen, eine Versicherung abschlieรen zu kรถnnen. Insgesamt ist zu erwarten, dass das neue Gesetz die operative Resilienz erhรถhen wird.
Cyber Risk: Eine wachsende Bedrohung
Betriebsunterbrechungen kรถnnen auch entstehen, wenn ein Cyber-Angriff das eigene Unternehmen oder ein kritisches Element der digitalen Infrastruktur trifft. Gerade Ransomware-Angriffe nehmen stark zu. Laut der Sophos-Studie „State of Ransomware 2022“ waren 67 Prozent der in Deutschland befragten Unternehmen im Jahr 2021 von Ransomware betroffen, gegenรผber 46 Prozent im Jahr 2020. In letzter Zeit zogen sich vermehrt Versicherer aus dem Bereich Cyber Risk zurรผck, denn bis dato fehlen in Unternehmen oft noch die nรถtigen Werkzeuge, Datensรคtze und Analytics, um die Risiken richtig zu beurteilen. Aber mit einer leistungsfรคhigen Data-Analytics-Lรถsung lรคsst sich Licht ins Dunkel bringen. Hier bieten sich vor allem SaaS-Modelle an, deren Skaleneffekte es Unternehmen ermรถglichen, Unmengen an Daten zu verarbeiten und die Risikomodellierung damit auf eine neue Stufe zu heben.
Im Bereich Cyber Risk kรถnnen auch Rรผckwirkungsschรคden entstehen, dies fรผhrt wiederum zu Kumulrisiken und erklรคrt den Rรผckzug von Versicherern. Jedoch wird dieser Bereich in Zukunft kaum schrumpfen. Dass hier noch Entfaltungspotential fรผr Versicherer besteht, zeigen auch die Zusammenschlรผsse von unter anderem BASF und Airbus zur Grรผndung eines eigenen Versicherungsvereins fรผr Cyber Risk namens Miris.
Aber der Bereich Cyber Risk ist noch jung. Hier lรคsst sich viel aus der Herangehensweise von Sachversicherern lernen und die Abhรคngigkeiten รคhneln bei Rรผckwirkungsschรคden denen der globalen Lieferketten. Die operative Resilienz eines potenziellen Geschรคftskunden kรถnnte hier eine nรผtzliche Bewertungsgrรถรe fรผr Versicherer darstellen: Welche digitalen Abhรคngigkeiten stecken hinter kritischen Prozessen? Und wie sieht der Disaster-Recovery-Plan aus?
KI fรผr das Klima, Metaverse fรผr die Zukunft?
Wรคhrend fรผr Cyber Risk noch nach neuen Analysemethoden gesucht wird, entwickeln sich bei Versicherungen zu Klimarisiken interessante Ansรคtze: Bildgebung durch Satelliten oder sogar Drohnen ermรถglicht Versicherern eine erste Einschรคtzung des Schadenvolumens. Ferner kรถnnten Analysemethoden mit Echtzeitdaten in Verbindung mit KI in Zukunft manuelle Schadenregulierung sogar obsolet machen. Die Datenanalyse ermรถglicht zudem prรคdiktive Risikobewertungen sowie ein umfassendes Risikomanagement. Wetterereignisse und deren Auswirkungen lassen sich auf diese Weise besser vorhersagen. Versicherer kรถnnen ihre Kunden frรผher vor mรถglichen Risiken warnen und sich mit einer zuverlรคssigen und prรคventiven Risikoberatung positionieren.
Wรคhrend der Einsatz von KI in der Datenanalyse bereits konkrete Anwendungen ermรถglicht, stehen andere Entwicklungen noch am Anfang. Der Tech Trend Radar 2022 der Munich RE hat das Metaverse als Trend im Bereich „Hyperconnectivity“ identifiziert. Fรผr Versicherer kรถnnte das Metaverse eine neue Vertriebsplattform werden – vor allem im Hinblick auf die jรผngeren Zielgruppen. Neue Arten der Kundeninteraktion werden hier mรถglich, zum Beispiel die Simulation von Schadenereignissen. In Verbindung mit dem Metaverse entstehen komplett neue Ansรคtze und Use Cases fรผr Versicherer. Digitale Vermรถgenswerte mรผssen gegen Verlust oder Diebstahl versichert werden. Hier gibt es zwar erste Lรถsungen, aber insgesamt befinden wir uns noch in einem Stadium des Experimentierens.
Ein Fels in der Brandung sein
Der rote Faden, der sich fรผr 2023 durch alle Trends fรผr die Versicherungsbranche zieht, ist eine gewisse Unsicherheit. Die Herausforderung besteht darin, dass sich ein exaktes Szenario bei Vorfรคllen innerhalb der Lieferkette oder bei einem Cyber-Angriff nur schlecht vorhersagen lรคsst. Agilitรคt in Verbindung mit operativer Resilienz durch Business-Continuity-Planung sind oft die einzigen proaktiven Mittel, die Versicherten zu Verfรผgung stehen. Dies wird der Assekuranz das Leben nicht leicht machen, denn beim Underwriting von Cyber- und Lieferkettenrisiken kรถnnen Kumulrisiken entstehen und das Schadenvolumen in die Hรถhe treiben. Auf jeden Fall sollten Versicherer prรคdiktive Datenanalysemodelle nutzen, um Risiken bestmรถglich zu evaluieren und ihre Kunden entsprechend proaktiv zu beraten.
Aber kommende Gesetzesรคnderungen kรถnnten der Versicherungsbranche in die Hรคnde spielen, wรคhrend Entwicklungen in der Technologie weiter vorangetrieben werden. Angesichts des derzeitigen Weltgeschehens verwundert es nicht, dass Versicherer ihren Blick eher auf Krisenherde lenken und vor vielen Herausforderungen stehen. Jedoch sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass die Branche auch ein Gefรผhl der Sicherheit an ihre Kunden weitergibt. Und ein Auffangnetz ist in von wirtschaftlichen Turbulenzen geprรคgten Zeiten etwas, wonach sich viele sehnen.
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