Im Jahr 1969 erlebte Ian Anderson ein Konzert, das ihn nachhaltig prägte – im negativen Sinne. In einem Kasino in Las Vegas sah der Jethro-Tull-Sänger sein Jugendidol Elvis Presley und war schockiert von dessen Verfassung.
«Er war völlig neben der Spur, es war fürchterlich», erinnerte sich Anderson zu Jahresbeginn im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. «Es war eine schlimme Enttäuschung, diesen Mann zu erleben, dessen Musik uns allen in den Anfangsjahren des Rock’n’Roll so viel bedeutet hat.»
Für Anderson, der am 10. August 75 Jahre alt wird, stand fest: er will es anders machen. Schon früh sei er sich darüber im Klaren gewesen, dass exzessiver Alkoholkonsum und Drogen nichts für ihn sind, obwohl beides seit seiner Kindheit in seinem Umfeld sehr präsent gewesen sei. «Aber weil ich ein unsozialer Mensch bin, hänge ich niemals irgendwo rum», so Anderson ohne Ironie. «Ich bin nie in Clubs gegangen oder habe überhaupt nur ein Bier getrunken.»
Er hat zahlreiche Auftritte in Deutschland
Erstmals Alkohol getrunken habe er auf der «dritten, vierten oder fünften» Tournee mit Jethro Tull, allerdings stets in Maßen. Vielleicht auch deshalb erfreut sich der Sänger und Flötist mit Mitte 70 immer noch guter Gesundheit und spielt regelmäßig Konzerte. Noch bis Ende des Jahres ist er mit seiner Band auf ausgedehnter Europa-Tournee mit zahlreichen Auftritten in Deutschland, nachdem Anfang des Jahres ein neues Album veröffentlicht wurde.
Im englischen Blackpool hatte Anderson Jethro Tull einst gegründet. Geboren am 10. August 1947 im schottischen Dunfermline, aufgewachsen in Edinburgh, war er als Zwölfjähriger mit seinen Eltern und seinen beiden älteren Brüdern in die Küstenstadt gezogen. In der Schule gründete er mit späteren Jethro-Tull-Musikern seine erste Band, in der Anderson sang, Gitarre und Mundharmonika spielte. Die Flöte kam erst später, weil er sich als Gitarrist selbst nicht gut genug fand.
Von Blackpool zog es die Band in die Musikmetropole London, wo Anderson zunächst noch nebenbei als Putzkraft arbeitete. Lange musste er den Job nicht ausüben, denn schon mit dem zweiten Album gelang Jethro Tull – benannt nach einem britischen Agronomen – 1969 der Durchbruch. «Stand Up» erreichte in Großbritannien Platz eins der Hitparade und schaffte es in den USA in die Top 20. Parallel dazu landete die Single «Living In The Past», die kurioserweise erst drei Jahre später auf einem Album enthalten war, in den Charts.
Von Andersons damaligem Look mit langem Haar und Zauselbart ist heute nicht mehr viel übrig. Er hat eine Glatze, der Bart ist sauber gestutzt. Die Silhouette des flötenden Anderson, die seit den 70ern das Bandlogo ist, wurde über die Jahrzehnte angepasst.
Rockklassiker am Fließband
Ursprünglich als Blues-Rock-Band gestartet, entwickelte sich der Sound der Band zunehmend zu einer Mischung aus Progressive-, Folk- und Hardrock mit gelegentlichen Einflüssen von klassischer Musik. Und mit intelligenten Texten. Als alleiniger Komponist, Sänger und Flötist bestimmte Anderson den Stil. Anfang der 70er Jahre lieferte er quasi am Fließband Songs, die heute als Rockklassiker gelten – «Sweet Dream», «Life’s A Long Song», «Aqualung», «Locomotive Breath» oder «Thick As A Brick».
Vor allem durch Andersons markantes Flötenspiel hoben sich die Briten klanglich von ihren Weggefährten ab. «Ich glaube, dadurch haben die Leute gemerkt, dass wir anders waren als die anderen Bluesbands im Jahr 1968», so Anderson. «Und damit hatten wir schon immer ein Alleinstellungsmerkmal in Sachen Image und Marketing.»
Seit den 80ern veröffentlichte Anderson auch mehrere Soloalben, die sich teils stark vom Sound der Band abhoben. «Für mich war es immer eine ziemlich einfache Entscheidung», sagt Anderson im dpa-Interview. «Wenn es außerhalb der musikalischen Normen von Jethro Tull war, dann fand ich, es sollte ein Ian-Anderson-Album sein, weil es nicht dieselben Typen in der Band sind oder es ein anderer Musikstil ist.»
Nur für das 2012 erschienene Fortsetzungswerk «Thick As A Brick 2» galt das nicht. «Das hätte vielleicht ein Jethro-Tull-Album sein sollen», räumt Anderson im Nachhinein ein. Damals hatte Anderson seine Band gerade aufgelöst. Nach ein paar Jahren überlegte er es sich anders. Seit 2017 ist er mit veränderter Besetzung – der langjährige Gitarrist Martin Barre ist nicht mehr dabei – wieder als Jethro Tull aktiv.
Privat lebt der nach eigenen Angaben eher menschenscheue Musiker mit seiner Frau Shona auf einem Bauernhof im Südwesten von England, wo er auch sein Aufnahmestudio hat. Das Paar ist seit über 40 Jahren verheiratet, hat eine gemeinsame Tochter und seit Kurzem auch eine Enkeltochter. Damit ist Ian Anderson ganz offiziell Rockopa.
Auf dem aktuellen Album «The Zealot Gene» präsentiert sich der Musiker übrigens in Bestform, fast wie in den erfolgreichen 70er Jahren. Der alte Jethro-Tull-Songtitel «Too Old To Rock’n’Roll, Too Young To Die» passt also nur zur Hälfte. «The Zealot Gene» ist nach rund 20 Jahren das erste Studioalbum unter dem Namen Jethro Tull. Eine solche Lücke wird es nicht nochmal geben. Schon kurz nach der Veröffentlichung der Scheibe hat Ian Anderson angefangen, Musik für die nächste zu schreiben. Sie soll 2023 erscheinen.