Er verdreht nicht die Augen. Nach einem Austausch über Theater, Film, Humor, sein Leben als Jude in Deutschland oder sein Buch lässt sich Ilja Richter scheinbar widerstandslos auch Fragen über «Disco» gefallen. Die mit Trash-Elementen zum Kult gewordene Musiksendung hat ihren Moderator in den 70er Jahren berühmt gemacht. Das ist allerdings ein halbes Jahrhundert her.
Am 24. November wird der scheinbar ewige Sonnyboy 70 Jahre alt. Es ist einiges passiert in der Zeit, Richter hat viel gemacht. Und doch wird über «Disco» zu reden sein – dann halt etwas später.
Richter schlägt für das Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur einen Friedhofspark in Ostberlin vor. Geboren ist er 1952 in Karlshorst, damals noch Stadtteil der Hauptstadt der DDR. Wenig später zieht die Familie in den Westen der Stadt, zwischenzeitlich geht es nach Köln. Richter wohnt wieder in Ostberlin, er nennt es so. «Die Bezeichnungen Ostberlin und Westberlin sind natürlich ein Anachronismus, weil wir Gott sei Dank nicht mehr in vier Sektoren leben. Andererseits ist es von der Topographie her richtig.»
Er sagt auch: «Man sollte nicht mitmachen beim Verwischen von Spuren.» Etwa beim Palast der Republik, nach der Einheit asbestbedingt abgerissener Vorzeigebau der DDR. Im Herzen Berlins steht nun das Humboldt Forum hinter nachgemachter Barock-Fassade. «Die Rekonstruktion eines Schlosses ist für mich die Disneyisierung von Geschichte.»
Verwischen von Spuren kennt Richter aus der Familie. «Ich habe bestimmte Dinge gelebt, nur nach draußen sollte ich das nicht sagen. Das wollten die Eltern nicht. Weder über Judentum noch darüber, dass der Papa Kommunist war. Das alles war tabu», erzählt Richter. Es gibt einen Grund. «Damit es mir gut geht und nichts passiert.» Antisemitismus ist nach seiner Beobachtung in Deutschland «schamloser geworden. Vorher war er versteckt, jetzt ist er schamlos.»
Richter nennt sich einen Fünf-Minuten-Juden. «Ich finde den Begriff immer noch gut. Ich bin eben kein Vertreter der Jüdischen Gemeinde, aber ich habe jüdische Wurzeln. Die jüdischen Menschen sind mir näher als die anderen, weil es in dem Moment ja familiär wird.»
Seine Mutter bringt Ilja mit acht Jahren zum Radio. Er ist das Mäuschen Kukuruz im Hörspiel «Schwarz auf weiß», die Verfilmung des Märchenstoffes von Ephraim Kishon macht ihn zum Kinderstar. Es folgen Theaterrollen, das ZDF holt ihn für eine Serie. Dort übernimmt Richter mit 16 zunächst als Co-Moderator, später allein die Musiksendung «4-3-2-1 Hot & Sweet».
«Disco» als Gemischtwarenladen
Daraus wird 1971 «Disco». Richters Markenzeichen steht nicht für seinen Musikgeschmack. «Die „Disco“ war ein musikalischer Gemischtwarenladen», sagt er. «Die Redaktion streute so breit, dass vom deutschen Schlager über Country und Rock und Pop alles drin war, weil es eine hohe Zuschauerquote bekommen sollte.» Das klappt.
Als «Anachronismus» habe er Kabarett, Klassik, Jazz und Musical eingebracht. Richters von ihm gedichtete, gespielte, gesungene Sketche reichen bis zu banalem Klamauk. Zu seinem Stempel auf der Sendung gehören Rituale. Etwa auch die Präsentation eines besonderen Studiogastes:
Richter: «Licht aus!»
Alle: «Whomm!»
Richter: «Spot an!»
Alle: «Jaaa!»
Den bis heute bekannten Spruch nutzt damals auch die niederländische Moderatorin Mies Bouwman in ihrer Sendung «Eén van de acht».
Zwischen seinen meist leger gekleideten Studiogästen der auch von Hippietum geprägten 70er Jahre sticht Richter in Anzug, Hemd und Krawatte hervor. «Der Anzug war mein Kampfanzug», sagt Richter. «Ich habe ja gelitten drunter, dass viele Linke glaubten, ich wäre rechts, weil ich da Anzug trug.» Ein Grund: «Meine Jugend fand im Fernsehstudio statt und nicht auf Demos.»
«Der Tod ist ein Mitarbeiter Gottes.»
Richter zählt 143 «Disco»-Sendungen bis 1982. Seitdem steht er vor TV- und Film-Kameras oder auf Theaterbühnen. Er spielt und singt. Mitunter schreibt er die Stücke selbst oder führt Regie. Oder beides. Richter synchronisiert Filme, spricht Hörspiele und Hörbücher ein. Er schreibt auch Bücher, zuletzt den Band «Nehmen Sie’s persönlich» mit Porträts. «Es geht um mich. Warum mich diese Menschen beschäftigt haben oder noch immer beschäftigen.»
Wie bezeichnet er sich selbst bei dieser Bandbreite? «Ich bin ein schreibender Schauspieler und nenne mich heute auch Chansonnier. Das ist meine jüngste Karriere.» Mit 70 ergeben sich auch Gedanken an ein Ende. «Der Tod ist ein Mitarbeiter Gottes. Der Tod ist nichts Bösartiges.» Schnell schickt er sein gewinnendes Richter-Lächeln hinterher: «Ich bin nicht begeistert davon, wenn er kommt.»
– Ilja Richter «Nehmen Sie’s persönlich. Porträts von Menschen, die mich prägten.» Elsinor Verlag, Coesfeld 2022, 176 S., ISBN 978-3-942788-70-0, 19 Euro.