Vicente Berlin: โMode ist nicht das Ziel โ sie ist der Wegโ
Vom improvisierten Bettlaken zur Berlin Fashion Week: Die Geschichte von Vicente Berlin
von Jane Uhlig
Ein Leben zwischen zwei Welten, zwischen Barfuร in Afrika und Brosche in Berlin, zwischen Bรคckereiprojekten in Angola und Laufsteglicht in Deutschland. Designer, Visionรคr, Mentor โ Vincente steht fรผr mehr als Mode.
Einmal umarmen, fรผr immer spรผren. Wenn Vicente รผber den Moment spricht, in dem er nach Jahren der Trennung eine Umarmung erlebte, klingt es nach Ankunft, nach Wรคrme, nach Leben. โIch spรผre es immer nochโ, sagt er. Und man glaubt es ihm sofort.
Dabei beginnt seine Geschichte nicht mit Applaus auf dem Laufsteg, sondern mit Improvisation โ in einem DDR-Internat in Stassfurt, in einem Land, das ihm fremd war und in dem es keine Garantie fรผr eine Zukunft gab. Zurรผck nach Mosambik wollte er nicht. Ob seine Eltern noch lebten, wusste er nicht. Also begann er, sein Leben neu zu nรคhen โ im wahrsten Sinne des Wortes.
Ein Bettlaken, Tee und die Lust auf Anderssein
Schon mit zwรถlf Jahren in Stassfurt war Mode fรผr ihn ein Ausdruck von Freiheit. In der DDR musste man kreativ werden. Wer anders aussehen wollte, musste selbst Hand anlegen. โIch war einer von denen, die mal das ein oder andere Bettlaken verschwinden lieรen, es in Tee getaucht und daraus Hosen gemacht habenโ, erzรคhlt Vicente lachend.
Eine Hauswirtschafterin wunderte sich regelmรครig, warum plรถtzlich weniger Laken im Umlauf waren โ und Vincente neue Outfits trug. Genรคht wurde in der schulischen Arbeitsgemeinschaft, spรคter dann im Selbststudium. Von Schauspielstudium zu Modedesign, von Finanzierungslรผcken zu Fox-Hochschulen โ Vicente machte immer weiter.
MC Hammer rettet den Tag
Seine ersten Kunden wollten โMichael-Jackson-Hosenโ โ gemeint waren MC-Hammer-Styles mit tiefem Schritt. โDiese Hosen haben mir wirklich das Leben erleichtertโ, sagt er. Sie wurden zu seinem ersten finanziellen Erfolg. Damit begann er zu sparen โ fรผr einen eigenen Laden, ein eigenes Atelier.
Sein Banker winkte anfangs ab: keine Sicherheiten. Doch Vicente lieร sich nicht stoppen, erรถffnete seinen ersten Shop โ mit gerade einmal 17 Teilen. Und รผberzeugte den Banker schlieรlich so sehr, dass dieser ihn einlud: โWie viel Kredit brauchen Sie?โ
โNicht viel reden. Machen.โ
Das ist eines von Vincentes Lebensmottos. Kein Gejammer, kein Konjunktiv. โIch liebe es, wenn Leute einfach machen. Nicht erzรคhlen, was sie kรถnnten, wennโฆโ, sagt er. Und Mode ist fรผr ihn genau das: Tun. Ausdruck. Persรถnlichkeit. Nicht angepasst, sondern authentisch.
โWenn ich sehe, dass jemand mit Liebe etwas kombiniert hat โ selbst wenn es nur ein T-Shirt ist โ dann ist das fรผr mich Mode.โ Er kennt Banker mit bunten Socken, Menschen, die sich mutig in Farben wagen, und Models, die nach dem Laufsteg in Trรคnen ausbrechen, weil ein Lebenstraum wahr wurde.
Barfuร in Berlin โ und frei
In Berlin lief er fรผnf Sommer lang barfuร durch die Stadt. Stilbruch als Statement. Es erinnerte ihn an seine Kindheit in Mosambik: โIch hatte ein Paar Schuhe. Die durfte ich nur zur Schule tragen.โ Das Gefรผhl von Natur, von Freiheit, hat ihn nie verlassen. Genauso wenig wie die Essgewohnheiten: โIch wollte lange lieber mit der Hand essen. Mit Messer und Gabel war mir das Essen irgendwie fremd.โ
Aufstieg, Absturz, Selbstfindung
Als junger Designer war er ganz oben โ Auszeichnungen, Medienauftritte, eine Firma, die auf drei Millionen taxiert war. Er trรคumte von Paris, von der internationalen Bรผhne. Doch als zwei Investorendeals platzten, brach etwas in ihm.
โIch war so getrieben vom Grรถรer, Weiter, Hรถher, dass ich nicht gesehen habe, was ich schon erreicht hatte.โ Statt Mode folgte soziale Arbeit: eine Bรคckerei fรผr Frauen in Angola, Projekte mit Jugendlichen in Berlin, Gedichte, Romane. Das Schreiben wurde sein Rรผckzugsort.
Die Rรผckkehr: โMode ist Todโ
Im Jahr 2024 meldete er sich zurรผck โ mit einem Knall: โMode ist Todโ lautete der provokante Titel seiner Kollektion auf der Berlin Fashion Week. Viele schauten irritiert. Fรผr Vicente war es ein bewusstes Statement. โMode war gestern. Heute geht es darum, dass jeder seinen eigenen Stil findet โ sich selbst erkennt.โ Und: ein Plรคdoyer fรผr Nachhaltigkeit, gegen schnellen Konsum und das ewige Hinterherlaufen hinter Trends.
Vom Designer zum Laufsteg-Mentor
Nicht nur an der Nรคhmaschine und im Atelier ist Vincente zuhause โ auch auf dem Catwalk. Er coacht Models fรผr ihre Auftritte und entwickelt Shows. Seine deutschlandweite Eventreihe fรผhrt ihn nach Hamburg, Dรผsseldorf, Berlin und Frankfurt โ und international nach Mailand und Paris. So vermittelt er jungen Talenten das Selbstbewusstsein und die Technik, die sie fรผr Laufstegprรคsenz brauchen.
Mentor mit Maรband und Haltung
Heute coacht Vicente gezielt junge Designer:innen und Models. Er kennt die ganzen Sorgen: den Stoff, der plรถtzlich ausverkauft ist, den Druck im Markt, die Unsicherheit vor dem Catwalk. Seinen Erfahrungen zufolge gibt er weiter, was hart erarbeitet wurde โ damit Jungdesigner nicht dieselben Hรผrden springen mรผssen.
โMode ist nicht das Ziel. Sie ist der Wegโ, sagt Vincente. Ein Weg, der in Mosambik begann, durch die Straรen von Stassfurt fรผhrte und heute zwischen Berlin, Laufsteg und Schreibmaschine verlรคuft. Als Designer, Mentor, Autor โ ein echter Allrounder. Sein Credo bleibt: Mode als Ausdruck von Persรถnlichkeit, Haltung und Freiheit.