Freitag, 15 November 2024
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Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Arbeitszeiterfassung

Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG ยง 3 Abs. 2 Nr. 1) verpflichtet den Arbeitgeber, Beginn und Ende der tรคglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. Der Gesetzgeber kann Ausnahmen auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 Richtlinie 2003/88/EG vorsehen. Bei der Entscheidung, ob ein Arbeitszeiterfassungssystem eingefรผhrt werden soll, hat der Betriebsrat kein Mitbestimmungsrecht (einschlieรŸlich Initiativrecht), wohl aber bei dessen Ausgestaltung.
(BAG, Beschluss vom 13.09.2022 – 1 ABR 22/21 -;
Leitsatz der Verfasserin)

Die Arbeitgeberinnen (AG) – Betreiberinnen eines Gemeinschaftsbetriebs – und der Betriebsrat (BR) verhandelten รผber die Einfรผhrung eines Systems zur elektronischen Arbeitszeiterfassung. Als die AG entschieden, kein elektronisches Zeiterfassungssystem einzufรผhren, setzte das Arbeitsgericht auf Antrag des BR eine Einigungsstelle ein, deren Zustรคndigkeit die AG rรผgten. Im daraufhin vom BR eingeleiteten Beschlussverfahren machte dieser geltend, er habe hinsichtlich der Einfรผhrung einer elektronischen Zeiterfassung ein Initiativrecht. Vor dem BAG hatte sein Antrag zwar keinen Erfolg. Der Sieg der AG ist aber ein Pyrrhussieg, denn diese sind, so das BAG, bereits auf gesetzlicher Grundlage verpflichtet, in ihrem Betrieb ein Zeiterfassungssystem einzufรผhren.
Die europรคische Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG regelt u.a. bestimmte Mindestruhezeiten und eine wรถchentliche Hรถchstarbeitszeit von 48 Stunden. Bereits am 14.05.2019 hat der Europรคische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die EU-Mitgliedstaaten gegen die Arbeitszeitrichtlinie verstoรŸen, wenn das nationale Recht keine Verpflichtung der AG zur Arbeitszeiterfassung vorsieht. Eine Zeiterfassung sei erforderlich, damit die Regelungen รผber die Mindestruhezeiten und die Hรถchstarbeitszeit den Beschรคftigten auch tatsรคchlich zugutekommen und ihre Einhaltung kontrolliert werden kann.
Trotz dieser klaren Entscheidung kam es in Deutschland bisher nicht zu einer gesetzlichen Neuregelung der Zeiterfassungspflicht. Eine allgemeine Regelung รผber die Aufzeichnung der Arbeitszeit enthรคlt ยง 16 Abs. 2 S. 1 Arbeitszeitgesetz (ArbZG). Diese Bestimmung sieht aber nur die Erfassung von Mehrarbeit (mehr als 8 Stunden tรคglich bei einer wรถchentlichen Arbeitszeit von Montag bis Samstag) vor. Daneben ist fรผr bestimmte Bereiche, etwa im StraรŸentransport (ยง 21 a Abs. 7 ArbZG) oder fรผr bestimmte Leiharbeitnehmer (ยง 17 a Abs. 1 AรœG), die Aufzeichnung der gesamten Arbeitszeit vorgeschrieben.
Wie die Bestimmungen des ArbZG dienen auch die des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer. Zu den Grundpflichten der AG gehรถren nach ยง 3 Abs. 1 S. 1 ArbSchG, dass sie die erforderlichen MaรŸnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen haben. Dazu mรผssen sie nach ยง 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG fรผr eine geeignete Organisation sorgen und die erforderlichen Mittel bereitstellen. Aus diesen Regelungen hat das BAG im Wege richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts, zu der die nationalen Gerichte europarechtlich verpflichtet sind, gefolgert, dass die AG die Arbeitszeit erfassen mรผssen. Der Wortlaut der Norm („erforderliche MaรŸnahmen des Arbeitsschutzes, geeignete Organisation“) sei so weit gefasst, dass sie ein System der Arbeitszeiterfassung einschlieรŸt und damit eine richtlinienkonforme Auslegung mรถglich ist.
Damit ist nunmehr hรถchstrichterlich entschieden, dass in Deutschland – bereits jetzt – eine allgemeine gesetzliche Verpflichtung fรผr Arbeitgeber besteht, ein System zur Erfassung von Beginn und Ende der tรคglichen Arbeitszeit (damit auch der Dauer) einzufรผhren. Ausnahmen kรถnnen durch Gesetz nach MaรŸgabe des Art. 17 Abs. 1 Arbeitszeitrichtlinie vorgesehen werden.
Fรผr die Mitbestimmung des BR folgt daraus: Nach ยง 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG sperrt eine gesetzliche Regelung das Mitbestimmungsrecht (einschlieรŸlich Initiativrecht). Da ยง 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG fรผr die Einfรผhrung einer Arbeitszeiterfassung („ob“) eine gesetzliche Regelung enthรคlt, hat der BR insoweit kein Mitbestimmungsrecht.
Eine andere Frage ist, wie das System der Arbeitszeiterfassung konkret ausgestaltet wird und ob der BR bei der Ausgestaltung ein Mitbestimmungsrecht hat. Nach ยง 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG hat der BR รผber den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften mitzubestimmen (einschlieรŸlich Initiativrecht). Bei ยง 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG handelt es sich um eine solche gesetzliche Rahmenvorschrift, die der Ausfรผllung bedarf. Nach der Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019 haben die EU-Mitgliedstaaten Spielraum bei der Festlegung der Einzelheiten der Arbeitszeiterfassung. Eine gesetzliche Regelung dazu gibt es in Deutschland aber (noch) nicht. In Bezug auf die Ausgestaltung des Systems der Arbeitszeiterfassung sperrt ยง 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG das Mitbestimmungsrecht des BR daher (noch) nicht.
Erst wenn und soweit der Gesetzgeber nรคhere Einzelheiten zur Frage der Ausgestaltung regelt, hat das Mitbestimmungsrecht des BR zurรผckzutreten.
Soll die Arbeitszeiterfassung durch technische Einrichtungen erfolgen, hat der Betriebsrat zudem diesbezรผglich ein Mitbestimmungsrecht aus ยง 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG bei der Ausgestaltung.

Fazit:
Endlich wird in Deutschland durch eine hรถchstrichterliche Entscheidung der andauernden Missachtung europรคischen Arbeitszeitrechts ein Ende bereitet. Viele Fragen sind noch ungeklรคrt, etwa unter welchen Voraussetzungen eine Aufzeichnung in Papierform ausreicht. Das Bundesarbeitsministerium hat angekรผndigt, es wolle einen Gesetzesentwurf vorlegen. Arbeitgeberverbรคnde haben erklรคrt, sie wollten das Gesetz abwarten. Tatsรคchlich ist aber die Verpflichtung der AG zur Einfรผhrung eines Arbeitszeiterfassungssystems schon jetzt geltendes Recht. Die รœberwachung obliegt den zustรคndigen Behรถrden (ยง 21 ArbSchG). BR sollten sich daher nicht wegen noch ausstehender gesetzlicher Regelungen davon abhalten lassen, von ihrem Mitbestimmungs- und Initiativrecht Gebrauch zu machen. Praktische Relevanz hat die Entscheidung des BAG u.a. fรผr die Vertrauensarbeitszeit. Im Koalitionsvertrag der Ampel wurde vereinbart, dass flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin mรถglich sein mรผssen. Ein Verzicht auf die zeitliche Erfassung der Arbeitszeit ist jedoch nicht zulรคssig. Eine andere Frage ist, ob die Aufzeichnung der betreffenden Zeiten auf die Arbeitnehmer delegiert werden kann. Dazu weist das BAG in seiner Entscheidung darauf hin, dass die unionsrechtlichen MaรŸgaben die Delegation an die Arbeitnehmer nicht ausschlieรŸen. Bei der Arbeitszeitrichtlinie handelt es sich um eine Regelung des Arbeitsschutzes. Die Entscheidung des BAG hat aber auch Auswirkungen auf Rechtsstreitigkeiten รผber die Vergรผtung des Arbeitnehmers, weil die Erfassung der Arbeitszeit es dem Arbeitnehmer erleichtert, nachzuweisen, dass er รœberstunden geleistet hat.

Ingrid Heinlein, Rechtsanwรคltin
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